Liebe ist ein Hund aus der Hölle

Disclaimer: Die Rezension ist als Gastbeitrag bei Uferbauwerk veröffentlicht worden, wo man ihn sich auch anhören kann.

CN: Bodyhorror // TW: sexualisierte & explizite Gewaltdarstellung; Schwangerschaft, Abtreibung & Geburt

Wie lässt sich eine Rezension über einen Film verfassen, der am besten wirkt, wenn man so wenig wie möglich über ihn weiß? Wenn das Ausformulieren und Wiedergeben des Gezeigten ihm womöglich jeglicher Strahlkraft beraubt?

Der diesjährige Gewinner der  Goldenen Palme ist radikal, intensiv und konsequent, womit er die Zuschauer*innen vor große Herausforderungen stellt. In ihrem gerade einmal zweiten Langspielfilm zeigt Regisseurin und Autorin Julia Ducournau eindrücklich, was das Genre des Bodyhorrors im Jahr 2021 zu leisten imstande ist und tritt dabei in große Fußstapfen, die sie nicht nur auszufüllen, sondern möglicherweise sogar zu überschreiben vermag.

Re-cap

Der Film steigt mit einer Rückblende in die Handlung ein, in der Alexia (Agathe Rousselle) als Kind einen Autounfall verursacht und daraufhin eine Titanplatte in ihren Schädel eingebaut bekommt. Dieser Moment ist signifikant für alles Folgende, denn von da an verändert sich etwas in ihr und in ihrer Welt. Als sie das Krankenhaus verlässt, läuft sie zum Auto und beginnt es zu liebkosen, womit der Unfall, die Titanplatte, ihr Verhältnis zu Autos und ihre Sexualität in Beziehung zueinander gesetzt werden.

Nach einem Zeitsprung sieht man sie als erwachsene Person bei einer Art Auto-Show tanzen und von Männern bedrängt werden. Einer dieser Männer verfolgt sie über den Parkplatz hin zu ihrem Auto, immer aufdringlicher und bedrohlicher, bis sich das Blatt wendet und eine zweite prägnante Marke für die weitere Laufzeit des Films gesetzt wird: mit einer Stricknadel, durch die sie ihre Haare zusammenhält, bringt sie ihn um. Die Kamera hält drauf und man sieht den Mann ohne Schnitt in ihren Armen sterben. Und er wird nicht der letzte sein. Sich in immer mehr für sie scheinbar ausweglosen Situationen wiederfindend, bringt Alexia mehr Menschen um, bis sie aus Verzweiflung eine andere Identität annimmt: Die des vor vielen Jahren verloren gegangen Sohnes des Feuerwehrmanns Vincent Legrand (Vincent Lindon). Es gibt allerdings zwei große Probleme – zum einen sieht sie ihm nicht mal annähernd ähnlich und zum anderen ist sie schwanger (wie und warum will ich an dieser Stelle nicht verraten, da das eine der Schlüsselszenen des Films spoilern würde).

Meta-morphose

Wer die Begriffe “Auto” und “Sexualität” hört, bei dem werden vermutlich einige Erinnerungen wach. Titane wurde von vielen Seiten mit David Cronenbergs großartigem Film Crash (1996) verglichen und augenscheinlich ist der Vergleich nicht weit hergeholt. Es gibt wohl wenige Filme, die diese beiden Themenkomplexe unter einem Hut bekommen, doch wo Crash zwar ebenfalls in einer metaphorischen Lesart abbiegt, ist er alles in allem deutlich greifbarer und weniger abstrakt als Titane. Ähnlich wie in Ducournaus Debütfilm Raw, bei dem es sich ebenfalls um einen Bodyhorrorfilm handelt, sind die Symbole bei Crash eindeutiger und die Handlung und die Figuren auf menschlicher Ebene nachvollziehbarer. Titane hingegen wirkt wie eine im besten Sinne des Wortes kafkaeske Weiterentwicklung dieser Stoffe. Als Zuschauer*in bekommt man eine riesige Portion Semiotik vorgesetzt, die es erst einmal zu verdauen gilt. Dabei sind die eingesetzten Symbole nie arbiträr oder austauschbar, sondern geben ein immer besseres Bild vom großen Ganzen.

Körper-los

Alexias Körper erfährt im Film mehrfache Veränderungen. Als Kind bekommt sie eine Platte in den Schädel, die ihren Kopf zusammenhält; als Erwachsene schneidet sie sich ihre Haare ab, rasiert ihre Augenbrauen weg und bricht sich die Nase in der Hoffnung, dem verlorenen Kind ähnlicher zu sehen.

Sie ist schwanger und versucht dies unter großen Schmerzen zu verstecken; sie nimmt die Identität von Vincents Sohn an – einerseits, um nicht von der Polizei für ihre Morde gefasst zu werden, andererseits geht es im Subtext um die bestmögliche Verkleidung und darum, unsichtbar zu sein. In einer europäischen, patriarchalen Gesellschaft nimmt sie dementsprechend die Identität eines weißen Mannes an.

Es findet eine zweifache Transzendenz in ihr statt: eine physische und eine metaphysische. Die des Körpers in die Schwangerschaft und die ihres Verhaltens und Aussehens, wodurch sie männlich gelesen und wahrgenommen wird. Der performative Charakter vermeintlichen Geschlechterverhaltens wird besonders im Zusammenwirken mit der Feuerwehrstation ausgearbeitet. In der gänzlich männlichen Belegschaft wird das Wirken der geltenden Hierarchien anhand von Kommandant Vincent deutlich. Er sagt, es handelt sich um seinen verlorenen geglaubten Sohn und was er sagt, hat zu gelten.

Aber nicht nur ihr Körper erfährt Veränderungen, sondern auch der Vincents. In einer der ersten Szenen mit ihm wird er gezeigt, wie er sich (wahrscheinlich) Testosteron spritzt und eine starke körperliche Reaktion darauf hat. Später wird er gefragt, ob er das mache, weil er krank sei. Er verneint und entgegnet, er mache das, weil er alt ist. Es geht also nicht ausschließlich um den vermeintlich weiblichen Körper in einer patriarchalen Gesellschaft, sondern auch um die Rolle des männlichen – und der Film macht deutlich, dass unter dem Patriarchat alle Körper zu leiden haben.

Beide Darstellenden brillieren in ihren Rollen und tragen die Verletzlichkeit, Intimität und Unsicherheit glaubhaft zur Schau. Durch sie erfährt der Film eine Menschlichkeit und Feinfühligkeit, die dem reinen Text vermutlich durch seine Abstraktheit abhandengekommen wäre.

Auto-nomie

Neben den körperlichen Veränderungen sind Unabhängigkeit und bedingungslose Akzeptanz ein zweiter großer Themenkomplex des Films. Nach den brutalen ersten 30 Minuten wird der Film zwar nicht wirklich gemächlicher, dafür aber weniger explizit gewaltsam.

An Stelle der Gewalt tritt nun die Beziehung zwischen Alexia und Vincent in den Mittelpunkt des Geschehens, durch welche die gesellschaftliche Konstruktion von Freundschaft, Vertrauen und Familiarität deutlich wird.

Vincent ist es egal, ob es sich bei Alexia wirklich um seinen Sohn handelt. Zu Beginn versucht er sie stark in eine männliche Rolle zu drängen, beispielsweise indem er mit ihr rangelt oder sie im Gesicht rasiert, damit der Bart schneller wächst. Von Anfang an schwebt bei den Zuschauer*innen, aber auch bei den übrigen Figuren im Film (wie den Feuerwehrmännern) ein unausgesprochener Zweifel mit – glaubt er jetzt wirklich, dass dies sein Sohn ist? Der Film versteift sich aber nicht darauf, sondern macht durch das Verhalten der beiden deutlich, dass es sich im Grunde genommen um die falsche Frage handelt. Warum glauben die anderen nicht, dass dies sein Sohn ist? Eine Familie kann auch jenseits von Verwandtschaft und Abstammungen entstehen und indem der Film die bedingungslose Unterstützung, und am Ende Akzeptanz, der beiden zeigt, kritisiert er dieses konservative Weltbild.

Elegant weiß Ducournau mit Symbolen, Genregrenzen und Stilen umzugehen. Sie baut auf frühere Filme auf, entwickelt die Stoffe aber weiter und setzt neue Bezugspunkte für klassische Bodyhorrorthemen.

Fazit

Ich kam in den Genuss, diesen Film bereits zwei Mal zu sehen und beide Male hätte die Erfahrung nicht unterschiedlicher verlaufen können. Zum ersten Mal sah ich den Film in einer Pressevorführung mit einer Handvoll Journalist*innen in einem großen Saal. Es herrschte völlige Stille und alle waren gebannt von dem, was auf der Leinwand geschehen ist. Ungefähr zwei Wochen später zu einer Preview, lief der Film im selben Saal, nun allerdings ausverkauft. Mit ungefähr 130 anderen Zuschauer*innen saß ich nun da und war gespannt, was passierte. Innerhalb der ersten halben Stunde, in der es auch am meisten Gewalt gibt, sind drei Leute ohnmächtig geworden, wobei es sich bei einer Person um ein medizinisches Problem handelte und bei den zwei anderen aller Wahrscheinlichkeit nach dem Film zu verdanken war. Ich kann nicht behaupten, dass ich schonmal etwas Vergleichbares erlebt habe und denke daher, dass man sich gut überlegen sollte, ob und in welchem Umfeld man sich den Film ansehen sollte.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Titane einen schmerzhaften Nerv trifft und für eine wirklich körperliche Erfahrung beim Zuschauen sorgt. Er nistet sich in das Unterbewusstsein ein und lässt einen erstmal nicht mehr los. Mit brillanten Bildern, präzise eingesetzter Musik und Soundeffekten und zwei hervorragenden Hauptdarsteller*innen gelingt Ducournau ein großer Wurf und ein Meilenstein des Horrorfilms der letzten Jahre. Radikal feministisch und konsequent bis zum Schluss entwickelt sie das lange nicht mehr bestellte Feld des Bodyhorrors weiter und eröffnet neue Möglichkeiten für das, was das Genre sein kann.

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