Fernseher aus – Glotze an

Eine Besprechung des Auftritts von Glotze am 26.10.2019 im Rahmen des Literatur Herbsts.

Samstag, 22 Uhr. Du warst am Vortag 8 Stunden arbeiten, musstest direkt im Anschluss nach Dresden fahren, um ein Konzert zu fotografieren und bist 2 Uhr nachts zu Hause angekommen. Unerholt warst du bis vor 10 Minuten auf Arbeit, musst dich beeilen, um noch rechtzeitig zur Galerie für zeitgenössische Kunst zu kommen, damit du den Auftritt des avantgardistischen Jazz-Trios „Glotze“ miterlebst und bei der Gelegenheit ablichtest, weil sich zum einen kein anderer Termin für den Literarischen Herbst finden ließ und sich die beiden Sachen zum anderen gut kombinieren lassen könnten. Der Blick ins Programm verrät, „[sie fordern] das Publikum – abseits standardisierter Hörgewohnheiten – durch die stark ausgeprägte Emanzipation ihrer Musik. Leitmotive zeitgenössischer Musik prallen in eruptiver Avantgarde-Attitüde auf antipodisch vermuteten Jazz und Punk und machen „Glotze“ zu einem sechsarmigen Vertreter des Leipziger Metajazz“, und du kannst in deinem Zustand nur jedes dritte Wort verstehen. Vielleicht bist du nicht ganz auf der Höhe, um diese Musik wirklich erfassen zu können. Oder vielleicht wird dich dieser Zustand gerade dazu bringen, es doch zu tun. Zumindest im Ansatz.

Das Auge hört mit

Der kleine quadratische Raum, in dem das Konzert stattfindet, ist eine Blackbox; lediglich ausgeleuchtet von zwei kleinen Baustrahlern, die zur Band ausgerichtet sind, und zwei vorweihnachtlichen Sternen, die in verschiedenen Rhythmen rot und grün leuchten. Einer ist an einem Ständer angebracht, der andere steht auf dem Boden vor der Bassdrum – bis zu dem Zeitpunkt, als er gleich zu Beginn umkippt und bis zum letzten Lied so verbleiben wird. Gelinde gesagt ist die Location eine fotografische Herausforderung hinsichtlich der fehlenden Lichtquellen. Trotzdem, oder gerade deswegen, entsteht eine besondere Atmosphäre, die nicht zuletzt auch durch die abgestandene, schweißerfüllte Luft des vorherigen Auftritts herrührt. Immerhin hat da drin keiner geraucht.
Der Schlagzeuger sitzt in einer Ecke, rechts von ihm steht der Saxophonist und links der Bassist. Das ist also die Band. Durch die Positionierung der Notenständer fällt kein Licht in das Gesicht des Saxophonisten und auch der Drummer wird von Schatten umzingelt. Um die Musiker herum bildet das an der Wand lehnende und auf dem Boden sitzende Publikum von circa 25 Personen einen Halbkreis. Das Trio bewegt sich während des Auftritts wenig und lässt die Musik für sich sprechen – auch die Zuschauer*Innen bleiben ruhig und klatschen lediglich am Ende der Lieder, falls ein Ende erkennbar ist.

Überleitendes Spiel statt Ansagen

Die Instrumente sind überraschend gut abgemischt dafür, dass sie keine große technische Ausstattung haben. Alles ist klar zu hören, und selbst der Bass geht weder unter, noch überschattet er die anderen. Sie spielen einige Lieder (wie viele genau, ist nicht wirklich auszumachen), bevor eine kurze Ansage kommt, in der der Saxophonist alle vorstellt um damit abzuschließen, dass sie von nun an bis zu dem letzten Lied durchspielen werden. Bis hier hin war die Musik irritierend, geprägt von seltsamen Tönen aus dem Saxophon, einem E-Bass mit starker Verzerrung und Effekten und dazu einem rhythmisch irritierenden Schlagzeug. Das wird sich im weiteren Verlauf des Auftritts auch nicht ändern. Je länger du dasitzt und ihnen beim Spielen zuhörst merkst du aber, dass sich etwas anderes
ändert, nämlich deine Wahrnehmung der Band. Und so langsam beginnt die Beschreibung aus dem Programm Sinn zu ergeben.

Hohe Forderung trotz freien Eintritts

Ihre Musik ist tatsächlich emanzipiert: Sie zieht Inspiration aus verschiedensten Quellen und vermischt sich zu etwas, das sich eigentlich nicht miteinander vereinbaren lässt. Ihre Musik ist tatsächlich antipodisch: Jazz und Punk sind Gegensätze, die eigentlich nicht gleichzeitig auf eine Bühne passen, und doch auf einer sind. Ihre Musik ist tatsächlich Meta: Sie ist Jazz über Jazz, Punk über Punk und Musik über Musik, beinahe wie eine praktische Umsetzung einer musikwissenschaftlichen Abhandlung. Obwohl das Konzert gratis ist, wird vieles von Seiten des Publikums gefordert, und damit auch von dir. Wenn du es aber bis zum Ende geschafft hast und dabei so etwas wie ein kathartisches Gefühl verspürst, dass dich auch nach einem 30-minütigen Fußweg nach Hause nicht mehr loslässt, ist einiges richtig gelaufen.

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